Im Nachklang > Vielfalt ist bereichernd

Zu einer ungewöhnlichen Begegnung kam es am Montagabend, 13. März, 19:30 Uhr, in der Neuen Denkerei. Im Open Space begegneten sich Bischof Dr. Michael Gerber aus Fulda und die Bildungsunternehmerin Hacer Toprakoglu aus Kassel und sprachen über Vielfalt. Für beide war das aus unterschiedlicher Perspektive ein entscheidendes Zukunftsthema.

Text: Kerstin Leitschuh, Referentin Citypastoral Kassel
Fotos: Marcus Leitschuh

Gespräch am 13. März 2023 in der Neuen Denkerei: Hacer Toprakoglu, Kassel, und Bischof Dr. Michael Gerber aus Fulda. Foto: Marcus Leitschuh

 

Die 1988 im Ruhrgebiet geborene muslimische Bildungsunternehmerin Hacer Toprakoglu und der 1970 in Baden-Württemberg auf die Welt gekommene katholische Bischof Dr. Michael Gerber: Zwei interessante Menschen, die auf Einladung der Citypastoral Kassel und der BiSi - Bildung und Soziale Innovation gGmbH in der „Neuen Denkerei Kassel“ über Vielfalt sprachen und die unterschiedlichen persönlichen Zugänge dazu.

 

„Begegnungen prägen Überzeugungen“

Die Erfahrung von Vielfalt im persönlichen Alltag sieht bei beiden aufgrund ihrer unterschiedlichen Tätigkeiten sehr verschieden aus. Bischof Michael Gerber begegnete in dem zu Ende gegangenen Synodalen Weg der katholischen Kirche Deutschlands der Vielfalt des Katholischen: generationenübergreifend, unterschiedliche Überzeugungen, queere Menschen, Bischöfe. „Für mich war es eine ganz starke Erfahrung, mit Menschen aus anderen Richtungen über einen längeren Zeitraum im Gespräch zu sein. Das hat meine Haltung zu vielen Themen nachhaltig verändert“, so Gerber. Er ist sich sicher, dass Begegnungen mit Menschen unsere Überzeugungen prägen. Gleichzeitig räumt er auch ein, dass die katholische Kirche häufig unter sich sei.

Gerber verriet, dass er im Urlaub gerne mit einem Wohnmobil und nicht in seinem Amt als Bischof von Fulda erkennbar unterwegs ist. Er genießt es, dann einer von vielen zu sein, die auf dem Campingplatz unterwegs sind, und in ganz andere Bezüge und Kontakte zu kommen.

 

Hacer Toprakoglu mit Moderator Christoph Baumanns

Selbstverständliche Vielfalt

Unternehmerin und Sozialpädagogin Hacer Toprakoglu erlebt durch ihre Arbeit im Studienhaus Eberhard täglich Vielfalt. Immer wieder stellt sie fest, dass Vielfalt für sie so eine Selbstverständlichkeit ist, dass sie selten im Studienhaus darüber sprechen. Es geht immer um Menschen, die Kursteilnehmer*innen mit all ihren Eigenschaften, die Menschen eben haben. Gleichzeitig ist es ihr wichtig, andere Menschen dazu anzuregen, ihren Umgang mit Vielfalt zu reflektieren. Sie ist sich sicher, dass die Vielfalt mitten in der Gesellschaft stattfindet. Über diese muss nicht mehr grundsätzlich gesprochen werden. Wichtig ist es, darüber zu reden, wie wir mit der Vielfalt umgehen und welche Haltung die Menschen dazu haben.

Sie selber hat als kopftuchtragende Muslima häufig Benachteiligungen erfahren. Für sie ist es wichtig, immer wieder klarzustellen, in welcher Rolle sie gerade ist. Und das ist eben meistens die Sozialarbeiterin und nicht die Vertreterin einer Religion. Als erkennbare Muslima sieht sie jedoch auch die Chance, Gruppen zu erreichen, die sonst nicht erreicht werden können.

 

Bischof Gerber mit Moderatorin Kerstin Leitschuh

Vom Wert der Bildung und des Menschen an sich

Michael Gerber ist es ein großes Anliegen, Menschen unterschiedlicher Bildungshintergründe zusammenzubringen und gemeinsame Erfahrungen zu ermöglichen. Das leistet beispielsweise die kirchliche Jugendarbeit. Es ist wichtig, Räume zu schaffen, wo unterschiedliche Menschen ihre Wirksamkeit erleben können. Das werde z.B. bei der großen sozialen 72-Stunden-Aktion verwirklicht. Dort engagieren sich deutschlandweit unterschiedliche Jugendliche und junge Erwachsene 72 Stunden lang in Gruppen für viele soziales Projekte. Er spricht sich sehr dafür aus, in unterschiedlichen Formaten zu fragen, was man voneinander lernen kann. Dafür ist es wichtig, sich die Kategorien, in denen man denkt, anzuschauen und zu prüfen: „Wo sind jenseits der Kategorien, die wir kennen, auch Werte? Wo muss ich meinen Horizont weiten? Das, was ich für selbstverständlich halte, muss ich auch aufbrechen lassen“, sagt Gerber.

Für Hacer Toprakoglu ist Bildung das Tagesgeschäft. Und damit möchte sie Gesellschaft verändern. Qualifizierung ist ihr sehr wichtig, aber der Mensch an sich hat auch schon einen Wert an sich. Schlüsselerlebnis bei ihrem ersten Bildungsprojekt war die Nichtanerkennung von 10 Jahren Schulbesuch einer Gruppe von Eritreern in ihrer Heimat. „10 Jahre, das ist doch nicht nichts“, sagt sie empört. Die Menschen haben etwas gelernt – auch wenn es nicht unseren Anforderungen entspricht. Sie weiß, dass Qualifizierung wichtig ist. Gleichzeitig fragt sie sich aber auch, wie Menschen wirksam sein können. Dabei geht es ihr v.a. um Frauen, die keine Schulabschlüsse oder nicht anerkannte Qualifizierungen mitbringen. Deswegen sind sie nicht niemand, sondern prägen auch Gesellschaft mit. Toprakoglu möchte hier die Gesellschaft zum Nachdenken bewegen. Die Werte der Menschen können eine Ressource sein, die hilfreich für unser Zusammenleben und unseren Zusammenhalt sein kann.

 

Gespräch am 13. März 2023 in der Neuen Denkerei: Hacer Toprakoglu, Kassel, und Bischof Dr. Michael Gerber aus Fulda. Foto: Marcus Leitschuh
Dr. Michael Gerber und Hacer Toprakoglu eingerahmt vom Modertorenteam Kerstin Leitschuh und Christoph Baumanns

Die Frage nach meiner Identität

Sich immer wieder seiner Identität zu stellen und diese zu prüfen, ist laut Gerber eine dauerhafte Notwendigkeit: Wer bin ich? „ Wo bin ich in der Gefahr, dass ich mich über die Summe meiner Aktivitäten definiere“, sich das zu fragen, dazu regt Gerber an. Dadurch kann man tiefer durchstoßen zum Kern seiner Identität. Gerber: „Wenn ich weiß, wer ich bin, für welche Anliegen ist stehe, wie ich diese in unterschiedlichen Kontexten durchbuchstabieren kann, dann kann ich auch einen tieferen Zugang zum anderen finden.“

 

„Das Beste von allen Kulturen zusammentragen.“

Viel zu häufig hört Toprakoglu den Satz „Bei uns macht man das aber so!“ Sie stellt sich die Frage wo das alles festgeschrieben sei. Sie schlägt vor, dass man sich das Beste von allen Kulturen zusammentragen kann. Solange es nicht in den Gesetzen steht, kann man die Kultur verändern und voneinander lernen. „Wir müssen viel dynamischer sein und uns auf Veränderungen einlassen“, sagt sie.

Dass sie mit mehreren Kulturen parallel aufwachsen ist, empfindet Toprakoglu als Privileg. „Wer so aufgewachsen ist weiß, dass es häufig kein richtig und kein falsch gibt. Man kann es nur anders machen.“ Sie hat ganz früh schon gelernt, gegensätzliche Aussagen von Menschen, die sie beide geliebt hat, auszuhalten und zu sagen: Vielleicht haben beide ein bisschen Recht oder vielleicht hat keiner Recht. Menschen, die mit einer Kultur aufwachsen, lernen das erst viel später. Sie wünscht sich, dass die Menschen, die mit zwei Kulturen aufwachsen, es auch gesagt bekommen, dass das ein Privileg ist. „Leider wurde uns immer gesagt, wir sind ein bisschen problematisch wegen der zwei Sprachen und weil unsere Eltern nicht so gut integriert sind. Meiner Tochter, die sechs ist, habe ich das schon ganz früh gesagt, wie cool das ist, zweisprachig zu sein.“ Vor allem in extrem emotionalen Situationen fühlt sie sich in der deutschen Sprache begrenzt. Auf Türkisch konnte sie sich z.B. beim Tod ihrer Großmutter viel besser ausdrücken. „Da habe ich gemerkt, was für ein Reichtum das ist. Wenn ich mit einer Sprache an die Grenze komme, dann nehme ich einfach die andere.“

Was können Kirche und Religion dazu beitragen, dass Menschen weniger Angst vor der Veränderung haben? Michael Gerber führt dazu das Bild des Kletterns an. Der kletternde Mensch ist durch ein Seil gesichert. Dieses ist aber locker und er spürt es nicht. Jedoch macht es einen Unterschied zu wissen, da ist jemand, der mich hält. „Dieses Gehaltensein gibt mir einen Grund, mich auch dorthin vorzuwagen, wo ich vielleicht sonst nicht hingehen würde.“ Religion hat die Chance zu vermitteln, dass es ein Seil gibt, das mich im Letzten hält. Wer sich im Letzten gehalten weiß, kann im Vorletzten gelassen sein. Menschen erleben Religion als Heimat und deswegen müsse sie für viele auch so bleiben. Die Herausforderung ist, klarzumachen, dass der Halt nicht in einer bestimmten Form besteht, sondern viel stärker in der Dynamik von Beziehungen, in denen ich mich als gehalten erfahre.

 

„Jeder darf für sich selbst entscheiden, wieviel Vielfalt er verträgt.“

Hacer Toprakoglu hört häufig den Wunsch, dass sich unsere Kultur nicht verändern soll. Veränderung sei in den Köpfen mit einer Verschlechterung verbunden. „Natürlich verändert sich Deutschland, vor allem jetzt als sehr sichtbares Einwanderungsland.“ Sie fragt aber, warum diese Veränderung gleich Verschlechterung bedeuten muss. Das weiß man nicht, wenn man nicht auf die Menschen zugeht und schaut, was sie mitbringen, was ihre Bedürfnisse sind und wo man sich treffen kann. „ Das ist ja das Schöne an der Demokratie: Jeder darf für sich selbst entscheiden, wieviel Vielfalt er verträgt. Aber man muss natürlich auch die Grenzen von Menschen wahren.“ Das Land kann ihrer Meinung nach jedoch nicht ohne Vielfalt funktionieren. „Wenn wir bestimmte Sachen nicht befürworten, müssen wir sie zumindest aushalten.“ Sie erzählt von ihren Großeltern, die als Gastarbeiter nach Deutschland kamen. „Meine Großeltern hatten so große Angst. 90 Prozent der Ängste waren unberechtigt und am Ende war alles gut.“ Sie ermutigt, dass wir immer wieder andere anregen, die Ressource in den Menschen zu sehen. Dem pflichtet auch Michael Gerber bei. „Wir sehen Menschen zu sehr von ihrem Defizit und nicht von ihrem Charisma her. Wir müssen kreativer nach dem Charisma des anderen zu fragen“, so der Bischof von Fulda im Gespräch mit der muslimischen Unternehmerin.

 

„Der Mensch ist immer mehr, als ich denke!“

Die Menschen zu sensibilisieren, dass Hilfe kein Almosengeben ist. Das sieht Sozialarbeiterin Toprakoglu ebenfalls als eine Aufgabe an. „Wir müssen den Menschen auf Augenhöhe begegnen“, sagt sie.

Michael Gerber berichtet von der Veränderung im Engagement der Kirche in der Einen Welt. Es geht heute um das Prinzip der Partnerschaft mit der Haltung, dass wir auch von den anderen lernen können. Er glaubt, dass jeder Mensch von Gott geschaffen ist und auch eine Botschaft für die Welt hat. Die eigene Aufgabe kann es dann sein, einen Raum zu schaffen, dass der andere das entdeckt, was er beizutragen hat. Wir müssen die Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit wahrnehmen und erkennen, dass da auch etwas von Gott kommt. „Der Mensch bleibt ein Geheimnis und er ist immer mehr, als ich denke!“

 

Dr. Michael Gerber und Hacer Toprakoglu, eingerahmt vom Moderatorenteam Kerstin Leitschuh und Christoph Baumanns. Foto: Marcus Leitschuh
Dr. Michael Gerber und Hacer Toprakoglu eingerahmt vom Modertorenteam Kerstin Leitschuh und Christoph Baumanns

Dynamische Kultur

Für die Veranstaltung kooperieren erstmals die BiSI – Bildung und Soziale Innovation gGmbH und die Citypastoral Kassel, unterstützt durch das Bistum Fulda. Citypastoralreferentin Kerstin Leitschuh: „Ich freue mich, dass wir mit der gemeinsamen Veranstaltung einen Raum für Begegnung und Gespräch schaffen – und damit ganz unterschiedliche Menschen zusammenbringen.“ Das Gespräch zwischen Dr. Michael Gerber und Hacer Toprakoglu, das Kerstin Leitschuh gemeinsam mit „Poem of Pearls“-Projektleiter Christoph Baumanns moderiert, ist zudem Teil der BiSI-Veranstaltungsreihe > „Dynamische Kultur Deutschlands! Eine vielfältige Gesellschaft gestalten“. Das Projekt wurde 2022 als „Vielfalt-Verstärker“ ausgezeichnet.

 

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